Ich sehe was, was du nicht siehst!
– Demokratie im pädagogischen Alltag

 

Von Anna Maria Kamenik, November 2022

 

„weil Demokratie die einzige Staatsform ist, die gelernt werden muss“ (Negt 2004, S. 197)

 

Demokratie ist ein voraussetzungsvolles politisches System, dass alle Bereiche einer Gesellschaft betrifft. Immerhin geht Demokratie von einer Herrschaft des Volkes aus, wodurch Bürger:innen mit Rechten und Pflichten ausgestattet werden. In der Konsequenz bewegen sie sich zwangsläufig innerhalb einer demokratischen Gesellschaft und verhalten sich dazu. So verstanden durchzieht Demokratie nicht nur parlamentarische Entscheidungsprozesse, sondern prägt grundlegend ein friedliches Zusammenleben auf Augenhöhe. Doch wo lernen wir demokratische Werte und Handlungsformen in der pluralen Gesellschaft? Mithilfe der Unterscheidung von Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform können wir verschiedene Handlungsebenen fassen und pädagogische Konsequenzen ableiten. Demokratie als Lebensform wird in Fragen der Persönlichkeitsbildung und des sozialen Lernens sichtbar. Demokratie als Gesellschaftsform beschreibt die Ebene von Organisationen, Institutionen und Gruppen und damit den Umgang mit gruppendynamischen und strukturellen Prozessen. Die letzte Ebene ist vielen aus dem Gemeinschaftskundeunterricht oder von Formaten, wie Podiumsdiskussionen bekannt – unter Demokratie werden hier formale Abläufe, wie zum Beispiel Wahlen, Entscheidungsprozesse oder internationale Beziehungen verstanden. Folglich argumentiert der Text entlang der Annahme, dass politische Bildung in erster Linie Bildung zu und für Demokratie ist – und für Demokratie wiederum benötigen Demokrat:innen auf den verschiedenen Ebenen entsprechende Fähigkeiten, die sie lernen müssen. In diesem Kontext taucht häufig der Begriff der Mündigkeit auf, welcher – vereinfacht gesprochen – einen verantwortungsvollen und aktiven Umgang mit sich und der gesellschaftlichen Umgebung beschreibt.

Entlang dieser Annahmen über Demokratie und Bildung werde ich pädagogische Konsequenzen aufzeigen und demokratische Bildung als zentrale Komponente einer professionellen und zeitgemäßen pädagogischen Haltung herausarbeiten – und zeigen, dass alle mitmachen können! Für alle drei Dimensionen der Demokratie kann der Beutelsbacher Konsens als zentrale ethische Richtlinie herangezogen werden. Er beschreibt das Überwältigungsverbot und schützt damit vor Indoktrination und zwanghaften Momenten in Bildungskontexten. Mit dem Kontroversitätsgebot wiederrum ist sichergestellt, dass komplexe Sachverhalte ebenso dargestellt und Ambiguitäten ausgehalten werden müssen. Schließlich gilt in Settings politischer Bildung immer der Wert der Subjektorientierung, mit dem Ziel eigene Bedürfnisse und Positionen zu kennen und diese einzubringen zu können.

Demokratiebildung auf Ebene der Lebensform

Auf der Lebensformebene sind zentrale Fragen der Auseinandersetzung beispielsweise: Welche Bedürfnisse und Wünsche habe ich? Wie kann ich dafür einstehen? Wo lebe ich? Geht es mir gut, dort wo und wie ich lebe? Welche Herausforderungen habe ich schon bewältigt und was habe ich daraus gelernt? Wie leicht fällt es mir auf die Welt und andere Menschen zuzugehen? Das Pädagogische auf dieser Ebene umfasst vor allem die emphatische und wertschätzende Begleitung der Adressat:innen bei ihrer Persönlichkeitsbildung. Außerdem können bewusst sichere Räume geschaffen werden, um solche Fragen zu bearbeiten. Perspektivübernahme ist hier ein zentrales Element, um Bedürfnisse und Entwicklungschancen von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen zu sehen. Als thematische Anknüpfungspunkte bieten sich die Kinder- oder Menschenrechte an. Hierin finden sich viele Elemente, um über Bedürfnisse, Konflikte, oder Gerechtigkeit zu sprechen. Zusammengefasst sollen die Subjekte bestärkt werden und eine demokratische Handlungsfähigkeit erwerben. So steht das Gefühl der Selbstwirksamkeit, die eigenen Einflussmöglichkeiten, sowie Ressourcen im Vordergrund.

Demokratiebildung auf Ebene der Gesellschaftsform

Mit dem Lernen von Demokratie als Gesellschaftsform sind viele Pädagog:innen von Haus aus betraut. Die Gestaltung pädagogischer Settings für mehrere Menschen birgt Lernfelder für Demokratie: Es kommt früher oder später zu Reibereien und gruppendynamischen Prozessen. Einzelne können sich selbst in Gruppen erleben, sich neu verorten, die Selbst- mit der Fremdwahrnehmung abgleichen und individuelle sowie strukturelle Grenzen erleben. Das sind für die Persönlichkeitsentwicklung äußerst hilfreiche Prozesse. Auf dieser Ebene gilt es Fragen der eigenen Wirkung, den Einflussmöglichkeiten sowie ihrer Barrieren und der Teamfindung zu bearbeiten. Denn gemeinsam auszuhandeln oder zu kooperieren, eröffnet ganz neue Möglichkeiten – auch für Demokratie sind Kooperation, Aushandlung und Pluralismus wichtige Bestandteile.

Demokratiebildung auf Ebene der Herrschaftsform

Zuletzt kann politisches Lernen auf Ebene der Herrschaftsform nun sinnvoll an die anderen beiden Ebenen und damit die Lebenswelt der Adressat:innen anschließen, womit sich die Zielgruppe politischer Bildung enorm erweitert. Demokratische Prozesse und Entscheidungen betreffen große Menschengruppen, sind aber oft schwer greifbar. Mit pädagogischer Beziehungsarbeit und einer subjektorientierten Didaktik kann politische Bildung aufgeweitet und niederschwellig an lebensweltliche Themen angeschlossen werden – ohne an Komplexität zu verlieren. Nun können gezielt Fragen des Was? und Wie? politischer Zusammenhänge und Strukturen geklärt werden. Auch hier soll darauf geachtet werden, dass die Adressat:innen zur kritischen Reflexion und eigenen Positionierung angeregt werden.

Und was bedeutet nun Demokratie im Alltag?

Weil Demokratie mehr ist als nur ein Entscheidungsprozess, kann sie in allen Bereichen pädagogischer Arbeit einbracht werden. Gemeinsame Aushandlungen über das Ausflugsziel? Demokratie! Biographiearbeit zu Stärken und Schwächen? Demokratie! Geschichten in der Kita lesen? Demokratie. Oder?

Der Demokratiebegriff sollte nicht wahllos oder schwammig werden, denn mit sinnvoller und differenzierter politischer Bildung geht Haltungsarbeit und die Verzahnung verschiedener Handlungsebenen einher. Demokratie ist nie abgeschlossen weshalb der Blogbeitrag dazu einlädt Demokratiebildung in der eigenen Arbeit zu integrieren und Potenziale zur weiteren Entfaltung eines Verständnisses von Demokratiebildung zu entwickeln. Dazu braucht es eine professionelle pädagogische Haltung, die Handlungen und Wissenselemente gezielt miteinander ins Verhältnis setzt und dabei zur Reflexion anstößt.  Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit Widersprüche auszuhalten und gleichzeitig eigene Grenzen zu setzen, spielt in der Haltungsarbeit und als Bildungsziel eine zentrale Rolle.

Nun konnte ich hoffentlich dazu ermutigen, demokratische Bildung im eigenen pädagogischen Alltag aufzuspüren und sich ohne Scheu auch als Akteur:in politischer Bildung zu verstehen. Demokratie als Lebens-, Gesellschafts-, und Herrschaftsform begreifen, kann dabei helfen, im Alltag demokratische Botschaften zu entschlüsseln. Da eine funktionierende Demokratie mündige Demokrat:innen voraussetzt und jedes Verhalten sich auf Demokratie auswirkt, ist es notwendig Demokratie gerade in globalen, krisenhaften Zeiten als übergeordnetes Thema für ein verantwortungsvolles Aufwachsen zu betrachten. Mit ihrer Arbeit können Pädagog:innen sichere Reflexions- und Lernräume schaffen und Bildungprozesse sensibel begleiten. Dazu benötigen sie neben konkretem Handwerkszeug eine, an den Menschenrechten ausgerichtete, professionelle pädagogische Haltung.

Und, wo findest du Demokratie in deiner Arbeit?

Literatur:

Addams, Jane (1905): Democracy and social ethics. New York: Macmillan.

Negt, Oskar (2004): Politische Bildung ist die Befreiung der Menschen. In: Hufer, Klaus-Peter/ Pohl, Kerstin/ Scheurich, Imke (Hrsg.): Positionen der politischen Bildung 2. Ein Interviewbuch zur außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Schwalbach/Ts: Wochenschau Verlag. S. 196-213.

Himmelmann, Gerhard (2004): Demokratie-Lernen: Was? Warum? Wozu? (Beiträge zur Demokratiepädagogik). Berlin : BLK 2004.

 

*Es gibt zu diesem Thema natürlich auch aktuellere Quellen und Bezüge. Diese hier eignen sich gut zum Einstieg. Wenn du dich für dieses Thema interessiert, kannst du z.B. bei der Bundeszentrale für politische Bildung (www.bpb.de) beginnen nachzulesen.

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