Der wunde Punkt:
Misslungene pädagogische Interaktionen

Mit den Reckahner Reflexionen zu einer ethischen Grundlage pädagogischer Arbeit

Von: Anna Maria Kamenik, Januar 2022

 

Was macht die pädagogische Beziehung aus?

Der erste Liebeskummer, der Streit um Freundschaft, schwierige familiäre Situationen – als Pädagog:innen sind wir oft Ansprechperson und Vertraute in persönlichen Krisensituationen. Je nach Arbeitsfeld bekommen wir auch im Alltag vieles mit und erleben Kinder und Jugendlichen in verschiedenen Stimmungen und Situationen – und auch wir haben Tage, an denen uns der Umgang mit Menschen leichter fällt als an anderen.

In der Kindheits- und Jugendforschung findet sich ebenso wie in Lerntheorien der Verweis darauf, dass Menschen besser lernen und stärkere Sozialkompetenzen haben, wenn sie eine gute Beziehung zu ihren Lehrpersonen haben. Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass Kinder und Jugendliche noch immer (systematischen) Demütigungen ausgesetzt sind, rund 5% der Interaktionen müssen dabei als sehr verletzend, weitere 20% als leicht verletzend angesehen werden[1] (vgl. Broschüre Reckahner Reflexionen, S.5). In Zeiten von Kinderrechten, Diskussionen um Adultismus und Beteiligungsformaten schon für die Jüngsten gehen Sein und Sollen hier recht weit auseinander. Den Blick auf misslungene pädagogische Interaktionen zu lenken ist dabei unerlässlich, um Verantwortung für ebendiese zu übernehmen und ein anerkennendes Miteinander zu schaffen.

Wenn wir als Seminarleitungen oder Pädagog:innen mit Menschen(-gruppen) agieren, dann geschieht das zwar immer von Mensch zu Mensch, aber gleichzeitig in einem spezifisch pädagogischem Modus.

Die pädagogische Beziehung unterscheidet sich von Alltagsbeziehungen insbesondere durch spezifische Rollenanforderung von drei Seiten: den Adressat:innen, dem Auftraggeber:innen und der Profession der Sozialen Arbeit selbst (vgl. Staub-Bernasconi 2016). Auf der dritten Ebene bedeutet das u.a. eine professionsethische Reflexion der Interaktion.

Denn in der pädagogischen Beziehung selbst liegen Machtverhältnisse. Pädagog:innen haben per Vorwissen und Rolle eine machtvolle Position und damit auch Verantwortung inne. Außerdem arbeiten sie auf bestimmte persönliche und gesellschaftliche, z.T. vorgegebene Ziele hin, gehen von einem bestimmten Soll-Zustand der Welt und der Menschen aus. Diese Aspekte wirken sich auf die Beziehung zu den Adressat:innen aus.

 

Wie kann die pädagogische Beziehung in den Blick genommen werden?

Eine Grundlage für die Reflexion der pädagogischen Beziehung im Team oder allein stellen die Reckahner Reflexionen dar. Sie beschreiben in 10 Punkten Do’s & Don‘ts pädagogischer Handlungen und stecken damit einen ethischen Rahmen ab. Sie lauten:

„Was ethisch begründet ist

1. Kinder und Jugendliche werden wertschätzend angesprochen und behandelt.

2. Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte hören Kindern und Jugendlichen zu.

3. Bei Rückmeldungen zum Lernen wird das Erreichte benannt. Auf dieser Basis werden neue Lernschritte und förderliche Unterstützung besprochen.

4. Bei Rückmeldungen zum Verhalten werden bereits gelingende Verhaltensweisen benannt. Schritte zur guten Weiterentwicklung werden vereinbart. Die dauerhafte Zugehörigkeit aller zur Gemeinschaft wird gestärkt.

5. Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte achten auf Interessen, Freuden, Bedürfnisse, Nöte, Schmerzen und Kummer von Kindern und Jugendlichen. Sie berücksichtigen ihre Belange und den subjektiven Sinn ihres Verhaltens.

6. Kinder und Jugendliche werden zu Selbstachtung und Anerkennung der Anderen angeleitet.

Was ethisch unzulässig ist

7. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte Kinder und Jugendliche diskriminierend, respektlos, demütigend, übergriffig oder unhöflich behandeln.

8. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte Produkte und Leistungen von Kindern und Jugendlichen entwertend und entmutigend kommentieren.

9. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen herabsetzend, überwältigend oder ausgrenzend reagieren.

10. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte verbale, tätliche oder mediale Verletzungen zwischen Kindern und Jugendlichen ignorieren. “ (Broschüre Reckahner Reflexionen, S.3)

 

Die Formulierung der Reckahner Reflexionen lässt eine konkrete Reflexion in der pädagogischen Praxis zu. Gleichzeitig fußen sie auf pädagogischen Theorien und empirischen Studien. Sie sind damit als Bindeglied zu verstehen und stärken die Pädagogik als Handlungswissenschaft.

Im Fokus steht der wertschätzende und anerkennende Umgang mit Kindern und Jugendlichen, sowie ihren Handlungen, Werken und Leistungen. Sie sollen als Einzelpersonen, aber auch als Teil einer Gemeinschaft gesehen und gefördert werden. In diesen Prozessen werden Kinder und Jugendliche so weit wie möglich selbst einbezogen.

In der Beziehung sind es die Fachkräfte, welche die Verantwortung dafür übernehmen, die Belange der Kinder und Jugendlichen abzufragen und angemessen zu berücksichtigen. Entwertende und entmutigende Verhaltensweisen von Seiten der Lehrpersonen sind ethisch nicht begründet. Auch passives oder vermeidendes Verhalten, also wenn Pädagog:innen nicht eingreifen, zählt zu diesen Verhaltensweisen.

 

Warum also über die pädagogische Beziehung nachdenken?

Kindern und Jugendlichen widerfährt in pädagogischen Settings immer noch systematisch demütigendes Verhalten. Also Verhalten, wie es in den Punkten 7-10 der Reckahner Reflexionen aufgeführt ist. Ein solches Verhalten ist weder mit Erkenntnissen über Motivation und Lernen noch mit ethischen Selbstverpflichtungen und Professionalitätsverständnissen zu vereinbaren.

Die Reflexion der pädagogischen Beziehung und der aufmerksame Blick auf dieses Phänomen ist hier ein zentrales Element, sich eingeschliffenen Mustern zu stellen und die eigenen pädagogischen Handlungen immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. Das ist mitunter ein intimer, schmerzhafter und allen voran reflexiver und kommunikativer Prozess. Auf blinde Flecken werde ich nicht alleine aufmerksam, neue Handlungsmuster denke ich mir nicht am Schreibtisch aus und in Erklärungsnot komme ich mit mir allein auch nicht.

Es reicht aber nicht aus hier auf individuelle Handlungsänderungen zu verweisen. Benötigt wird ein Rahmen, der fehlerfreundlich, kollegial, lösungs- und prozessorientiert ist. Es braucht Zeit und manchmal auch den Blick von außen in Form von Supervision o.Ä., um adäquat mit misslungenen Situationen umzugehen. Schließlich sollte das wertschätzende Klima der Reckahner Reflexionen auch auf Ebene des pädagogischen Teams und der Kommunikation nach außen weitergeführt werden.

Mit der Reflexion pädagogischer Situationen werden wir nie fertig – immer wieder stehen wir als vor Herausforderungen, immer wieder misslingen uns Interaktionen. Die Frage ist: Schaue ich dann hin oder schaue ich weg?

Das soll weniger eine Drohung sein und frustrieren als vielmehr den Gestaltungswunsch aller pädagogischen Fachkräfte wachrütteln. Gesellschaftliche Verhältnisse und pädagogische Routinen sind nicht schon immer da, sie sind menschengemacht, daher können sie auch verändert werden. Zur Verfügung stehen uns Werte und Haltungen, die wir mit Worten und Handlungen in pädagogische Handlungsfelder und die Öffentlichkeit tragen.

Die pädagogische Beziehung ist eine spezifische und als solche zu erhalten. Wir haben mit ihr die Möglichkeit gesellschaftliche Schutz- und Lernräume zu schaffen. Sie muss nach einem emanzipatorischen Verständnis in erster Linie Menschen darin bestärken, sich reflektierend und verändernd mit sich selbst und ihrer Mitwelt auseinanderzusetzen. Lasst uns mehr über unsere pädagogischen Beziehungen, gelungene und misslungene Interaktionen sprechen. Nur so bekommen wir die Möglichkeit die Qualität unserer professionellen pädagogischen Umgangsweisen zu verbessern.

 

 


Literatur

Staub-Bernasconi, Silvia (2016): Soziale Arbeit und Menschenrechte: Vom beruflichen Doppelmandat zum professionellen Tripelmandat. Opladen u. a.: Barbara Budrich.

Prengel, Annedore (2013): Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Opladen u. a.: Barbara Budrich.

Prengel, Annedore (2021): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden: Springer VS.

Broschüre zu den Reckahner Reflexionen: https://paedagogische-beziehungen.eu/wp-content/uploads/2021/04/ReckahnerReflexionenBroschuere_2021.pdf

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[1] Einen umfassenden Überblick über den Forschungsstand zu pädagogischen Beziehungen gibt Vivien Wysujak hier: https://paedagogische-beziehungen.eu/wp-content/uploads/2020/03/Modul-4_EmpirischeBildungsforschung_VivienWysujack.pdf


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